Das jüngste Projekt in unserem Hypertext-Meilenstein-Rückblick ist wohl zugleich auch das umstrittenste. Den einen ist es vielleicht nicht groß genug für einen Meilenstein der Hypertext-Geschichte, weil es nur ein einzelnes Webprojekt ist, also ein kleiner Teil von Tim Berners-Lee's Projekt. Den anderen ist es vielleicht nicht gut genug für einen Meilenstein, weil sie mit Wikipedia viel Negatives verbinden, angefangen von hässlichen Editier-Kriegen bis hin zum Vorwurf mangelnder Qualität, weil sich zu viele Laien und Möchtegern-Experten an der Entstehung der Inhalte beteiligen. Die Kritik, der Wikipedia ausgesetzt ist, bestätigt jedoch die Bedeutung des Projekts. Denn Fakt ist, dass Wikipedia binnen weniger Jahre die Enzyklopädie des menschlichen Wissens geworden ist. Realisiert als Projekt innerhalb des World Wide Web, demonstriert Wikipedia vor allem eine neuere Art von Webanwendung, die extrem hypertextorientiert ist und wichtige Voraussetzungen schafft, unter denen Menschen überhaupt Lust bekommen, an Hypertext-Inhalten mitzuarbeiten.
Die Geschichte der Wikipedia hat eine Vorgeschichte, die aus zwei wichtigen Strängen besteht.
Der eine Strang besteht darin, dass im Laufe der 90er Jahre erste Digitalpublikationen herkömmlicher Enzyklopädien erschienen. 1994, als 4stellige Preise für CD-ROM-Laufwerke üblich waren, erschien die Encyclopædia Britannica erstmals auf CD-ROM. 1996 brachte Microsoft mit Encarta eine neuartige, multimediale Enzyklopädie auf CD-ROM (später auf DVD) heraus, die selbst bei notorischen Microsoft-Gegnern großen Respekt erntete. Diese beiden Produkte verankerten die Möglichkeit digitaler, bildschirmorientierter Wissensvermittlung in zahlreichen Köpfen. Der Boom des World Wide Web Mitte bis Ende der 90er Jahre verstärkte die Tendenz zur elektronischen Präsentation von Inhalten.
Der andere Strang besteht darin, dass zeitgleich Überlegungen angestellt wurden, wie man in dem noch jungen Medium World Wide Web enzyklopädisches Wissen so realisieren könnte, dass ein größerer Autorenkreis ohne internet-technische Tiefenkenntnisse daran arbeiten kann. Der amerikanische Programmierer Ward Cunningham, der maßgeblich an zwei modernen Programmierparadigmen beteiligt ist, nämlich an Design Patterns (Entwurfsmuster) und Extreme Programming, erfand 1995 eine zunächst noch wenig beachtete, neuartige Webanwendung: das sogenannte Wiki Wiki Web. Die Original-Site, für das diese Anwendung gestrickt wurde, ist noch heute unter dem Titel Wiki Wiki Web online. Es beinhaltet bereits viele Konzepte moderner Wiki-Systeme.
Die einprägsame Bezeichnung Wiki verdanken wir der Tatsache, dass Cunningham öfters nach Hawaii kam. Am Flughafen erklärte man ihm, er solle den Wiki-Wiki-Bus nehmen, der die Terminals verbindet. Auf seine Nachfrage hin erfuhr Cunningham, dass wiki wiki im Hawaiianischen so viel wie schnell bedeutet. Schnell und unkompliziert sollte auch das Bearbeiten von Inhalten in seiner Webanwendung sein.
Cunningham's Original-Wiki erreichte zwar stattliche Ausmaße, doch es war keine allgemeine Enzyklopädie. Während die großen Lexikonverlage sich schwer taten mit Internet-Versionen ihrer Enzyklopädien, entstanden innerhalb des Webs neue Projekte dieser Art. Eins davon nannte sich Nupedia und startete im März 2000. Die Gründer von Nupedia waren zwei Amerikaner namens Jimmy Wales und Larry Sanger. Nupedia wurde von einem kleinen Kreis von Fachautoren gepflegt. Die Artikel wurden streng geprüft und hatten durchweg hohes Niveau. Ein anderes, konkurrierendes Webprojekt sollte GNUpedia werden, das vom Urvater der OpenSource- und OpenContent-Bewegung Richard Stallman initiiert worden war. GNUpedia war offener und auch für Laien-Autoren konzipiert. Die Situation der beiden verklüngelten und doch konkurrierenden Online-Enzyklopädie-Ansätze war jedoch unbefriedigend für alle Beteiligten.
Jimmy Wales zog daraus seine Konsequenzen. Unter dem für Nupedia drohenden Konkurrenzdruck, der von GNUpedia ausging, implementierte er eine Art Sammelbecken für Nupedia. Das Ziel war es, mehr Autoren aus der breiten Öffentlichkeit zu gewinnen. Gute Artikel aus dem Sammelbecken sollten dann in Nupedia übernommen werden. Bei der Software für die Webanwendung des Sammelbeckenprojekts orientierte sich Wales an Cunninghams Wiki Wiki Web. Deshalb tauft Wales sein Sammelbecken Wikipedia.
Das Wikipedia-Konzept war jedoch so überzeugend und wuchs binnen kürzester Zeit so schnell, dass sowohl Nupedia als auch GNUpedia alsbald nur noch Makulatur waren. Bereits nach zwei Monaten hatte Wikipedia über 2000 Artikel, und es wurden bereits mehrsprachige Versionen implementiert. Die Wachstums-Statistik der Artikelzahlen liest sich wie ein Märchen. Nach einem halben Jahr, also Mitte 2001, verzeichnete die englische Version bereits über 3.000 Artikel, die im Mai 2001 gegründete deutsche Version kam zum gleichen Zeitpunkt auf etwas über 300 Artikel. Im Dezember 2002 wurden erstmals mehr als 100.000 Artikel in der englischen Version gezählt. Die deutsche Version lag zeitgleich bei knapp unter 10.000 Artikeln. Derzeit (Stand: September 2007) kommt die englische Version auf genau 2 Millionen Artikel und die deutsche auf knapp 640.000. Zum Vergleich: der Brockhaus multimedial premium, Ausgabe 2007, bringt es gerade mal auf 260.000 Artikel.
Bei Hypertext gibt es wie bei linearem Text Autoren und Leser. In einem Medium wie dem World Wide Web, wo sich Texte digital und online verbreiten, fehlen jedoch die klassischen Bedingungen, die eine klare Trennung zwischen Autoren und Lesern überhaupt nötig machten. Es gibt keine Druck- und Lagerkosten, keine produzierenden Verlage, kein verteilenden Zwischenhändler und keine begrenzten Auflagen mehr. Es gab und gibt zahlreiche Möglichkeiten im Web, direkt und frei zu publizieren. Doch von dem Grundgedanken, dass Autoren und Leser zwei sehr getrennte Spezies sind, konnte man sich nach Jahrhunderten der Buchwelt und der Broadcasting-Medien nur schwer lösen. Nicht zuletzt deshalb entwickelte sich das Web zunächst auch in Richtung eines reinen Präsentationsmediums. Spontan publiziert wurde allenfalls in Communities und Foren, doch da nennt sich das Posten und wird von den Akteuren nicht als redaktionelle oder publizistische Arbeit empfunden.
Wikipedia ist das erste Projekt, bei dem es im großen Stil gelungen ist, die Grenzen zwischen Nutznießen und Mitmachen, zwischen Rezipieren und Publizieren, zwischen Leser und Autor aufzuheben. Ein wichtiger Aspekt für diesen Erfolg war, dass Jimmy Wales, der anfänglich noch versuchte, seine Webprojekte über Werbeeinnahmen zu finanzieren, rechtzeitig erkannte, dass er sein Ziel damit nicht erreichen würde. Wikipedia wurde werbefrei, und stattdessen setzte Wales bei der Wiki-Software auf OpenSource und beim Inhalt auf eine Lizenzform aus dem OpenContent-Bereich, die sogenannte GNU Free Documentation License (inoffizielle deutsche Übersetzung). Wer bei Wikipedia publiziert, akzeptiert damit diesen rechtlichen Rahmen. Finanziert wird das Projekt durch Spenden an die dafür gegründete Wikimedia-Stiftung.
Da eine Enzyklopädie das Wissen der Menschheit speichert, ist es kein Wunder, dass viele Menschen etwas dazu beitragen können. Denn es geht ja schließlich nicht nur um große Persönlichkeiten oder Geschehnisse, sondern auch um die Ortschaften dieser Welt, um Modelleisenbahnen, Hunderassen und die soziale Wirklichkeit, die aus Hypotheken, Kindergeld und Urlaubmachen besteht. Gerade heimatkundliches, zeitgeschichtliches oder arbeitspraktisches Wissen ist in der Breite der Bevölkerung gespeichert. Wikipedia ist es gelungen, die normale Bevölkerung zu ermutigen, solches Wissen beizutragen.
Doch wo viele Menschen wahllos publizieren, entsteht zwangläufig Chaos. Tatsächlich hat Wikipedia mit etlichen negativen Begleiterscheinungen der globalen Kollaboration zu kämpfen. Ideologische Grabenkämpfe etwa, die zu Edit-Wars führen, oder Vandalismus, also bewusstes Zerstören oder Verfälschen von Inhalten, oder schleichender Lobbyismus, der Inhalte einfärbt. Wikipedia ist jedoch kein kleiner Kreis überforderter Administratoren, die sich einem zahlenmäßig überlegenen Mob gegenübergestellt sehen. Wikipedia ist selbstorganisiert, organisch also. Das oberste Prinzip, die wertneutrale Darstellung, wird von den meisten Akteuren geteilt und verfochten. Diverse Funktionen der Wiki-Software unterstützen dabei, das System stabil zu halten. Unerwünschte Löschungen oder Änderungen lassen sich einfach rückgängig machen, da die Wiki-Software jeden abgespeicherten Bearbeitungsstand eines Artikels aufbewahrt. Die Software zeigt auf Wunsch auch, was in einem Bearbeitungsstand gegenüber einem anderen verändert wurde. Zu jedem Artikel gibt es eine Diskussionsseite. Unterschiedliche Auffassungen über Inhalte können dorthin verlagert werden. Dennoch führt der immerwährende Kampf gegen unerwünschte oder destruktive Tendenzen zu einem nicht ganz lupenreinen Gesamt-Image von Wikipedia in der Fachwelt. Innerhalb von Wikipedia gibt es Inhalte, die Antworten auf Kritik enthalten oder den Außenspiegel wagen.
Einer der schärfsten Kritiker des Wikipedia-Projekts ist übrigens Mitbegründer Larry Sanger, von dem sich Jimmy Wales ein Jahr nach Gründung von Wikipedia trennte. Sangers Hauptproblem mit Wikipedia ist die hemmungslose Demokratisierung der redaktionellen Prozesse. Nupedia, dessen Inhalte ausschließlich von ausgewählten Fachautoren erstellt wurden, entsprach eher seinen Vorstellungen einer web-basierten Enzyklopädie. Zu Nupedia-Zeiten dachte Sanger eindeutig noch in akademischen Zeitvorstellungen. Als Nupedia eingestellt wurde, gab es gerade mal zwei Dutzend abgesegneter Artikel, die den hohen Qualitätsvorstellungen entsprachen. Eine Konkurrenz für die existierenden Verlags-Enzyklopädien wäre daraus wohl frühestens nach dreihundert Jahren entstanden. Allerdings erhob Larry Sanger den Anspruch, als erster die zündende Idee zu Wikipedia gehabt zu haben. Mit der Sammelbecken-Funktionalität hatte er sich nämlich durchaus anfreunden können. Denn seine Vorstellung war zwar eine Elite-Klasse von Lexikon-Autoren, doch mussten dies keine Autoren mit klassischen Referenzen sein. Details seiner Kritik an Wikipedia sind gebündelt in einem Interview mit der Schweizer Sonntagszeitung nachzulesen.
Mittlerweile unternimmt Sanger einen neuen Versuch, eine qualitativ höherwertige Enzyklopädie im Web zu realisieren: das 2006 gestartete Projekt Citizendium basiert auf der gleichen Wiki-Software wie Wikipedia und dem gleichen Ziel, das gesamte Wissen der Menschheit zu repräsentieren, will jedoch redaktionell elitärer vorgehen. Die Erfahrung im Web lehrt jedoch, dass solch übervorsichtige Öffnungen nach außen nicht mehr sehr beliebt sind. Gerade potentielle Jungautoren mit Web-Erfahrung wollen sich nicht mehr als Bittsteller vorkommen, die einen Artikel „einreichen“ in der Hoffnung, dass er vom Überwachungskuratorium übernommen wird. Sie wollen publizieren und sich dabei die Hörner abstoßen.
An Wikipedia reiben sich also alte und neue Vorstellungen darüber, was als menschliches Wissen und Gedächtnis zu gelten hat, und wie das dort Gespeicherte zustande kommen soll. Wikipedia verwirklicht den Traum vieler Hypertext-Begeisterter. Doch wie bei jeder Verwirklichung von spannenden Gedanken macht sich auch hier der Geist schmutzig. Der unverminderte Erfolg von Wikipedia zeigt indessen, dass mit dem gewachsenen System aus Editierfreiheit, Vorgaben und Kontrollen durchaus ein Hypertext-Projekt realisierbar ist, das zigtausende von Autoren zählt und zig Millionen Benutzer, ohne quasi militärisch organisiert zu sein.
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