Hypertext ist die Vernetzung von Inhalten. Vernetzung [Wikipedia] ist jedoch kein hypertext-spezifischer Begriff; „Vernetzung ist ein Begriff aus der Systemtheorie [Wikipedia]“, definiert Wikipedia. Immer dann, wenn man ein komplexes System betrachtet, z.B. das System der weltweiten Warenflüsse oder das Ökosystem der Alpen, kommt man mit reinen Ursache-Wirkungs-Ketten nicht weiter. Denn die Ursachenkette beißt sich am Ende selber in den Schwanz und bildet mindestens Kreisläufe, meistens aber noch viel chaotischere, scheinbar wahllos querverbundene Faktorenstränge, die visualisiert aussehen wie ein Straßennetz oder ein komplizierter Schaltplan.
Hypertext ist eine Folge dieser systemtheoretischen Betrachtungsweise. Um Systeme, deren Komponenten ein vernetztes Gefüge bilden, adäquat beschreiben zu können, ist eine lineare Abhandlung diesem Gedankenansatz zufolge ungeeignet. Besser geeignet erscheint eine Darstellungsform, die den Netzcharakter einfach direkt abbildet. Die Systemkomponenten sind dabei einzelne Inhaltseinheiten, und ihr Gefüge wird durch Hyperlinks zwischen den Inhaltseinheiten abgebildet.
Die Argumentation geht aber noch weiter: „Hypertext scheint unter der Annahme kognitiv plausibel zu sein, dass Wissen […] im menschlichen Gehirn in vernetzt topologischen, nichtlinearen Strukturen organisiert sei. Unter dieser Annahme könnte die Wissensaufnahme über eine vergleichbare Organisationsform, wie sie durch Hypertext gegeben ist, effizienter sein als eine Aufnahme, die den 'Umweg' über lineare Präsentationsformen (Vorlesungen, Texte) nimmt“ — so schreibt der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen in dem Buch Hypertext. Ein nichtlineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, Berlin, Heidelberg, New York, 1991. Nicht nur betrachtete Systeme bestehen aus vernetzten Komponenten, sondern auch das menschliche Gehirn bzw. die Struktur all dessen, was in ihm gespeichert ist. Auch das menschliche Gehirn selbst wird also im modernen Denken als System begriffen. Das war nicht immer so — auch diese Auffassung ist eine Folge der systemtheoretischen Betrachtungsweise.
Hypertext entpuppt sich demnach als der Versuch, ein Denken, das sich selbst und all die Systeme in Natur und Technik, die es erkunden oder verstehen will, adäquat abzubilden. Hypertext soll systemtheoretisch orientiertes Denken in einer Form vermitteln, die selbst ins systemtheoretische Denken passt. Der Erfolg dieser Annahme sollte sich dann aber daran messen lassen, ob Wissen, das über Hypertext vermittelt wurde, gründlicher in die Köpfe der Lernenden gelangt als Wissen, das auf traditiionelle, nicht-lineare Weise (Buch, Vorlesung usw.) vermittelt wurde.
Gegen die Annahme, dass vernetzte Wissenspräsentation die Aufnahme von Wissen erleichtert, lassen sich zwei Argumente anführen:
Das erste Gegenargument führt ins Feld, dass sich der Hypertext-Leser seine Leselinie erst selbst bahnen muss, was Zeit und Energie kostet. Wobei die Wissensaufnahme letztlich nicht anders funktioniert als bei herkömmlichem Text: sie „findet…, auch durch die Navigation in Hypertext, in einer zeitlich sequentiellen Reihenfolge statt, sodass jeder faktische Weg letztlich doch wieder linear ist“ (Kuhlen).
Dem zweiten Gegenargument zufolge ist gerade die Integration von vernetztem Wissen in ein Wissensnetz problematischer als die Integration „einfachen“ Wissens in das Wissensnetz. Dahinter steht die Annahme, „dass zwei Netze, zumal wenn sie polyhierarchisch strukturiert sind, schwieriger zu integrieren sind als eine lineare Struktur in ein bestehendes Netz“ (Kuhlen).
Mittlerweile sind diverse Studien durchgeführt worden, die sich mit der Frage befassen, ob Hypertext nun besser oder schlechter abschneidet im Vergleich zu herkömmlichen, linearen Medien. Eine knappe Zusammenfassung inklusive eigener kleiner Studie bietet das Dokument Wissenserwerb, Navigationsverhalten und Blickbewegungen bei Text und Hypertext [Doc-Player].
Aus der kleinen Studie wird deutlich, was eigentlich auch einleuchtet: ein zusammenhängender Inhalt wird linear besser aufgenommen als in einer zerstückelten Hypertext-Form. Der Hauptgrund ist, dass bei Hypertext immer ein Teil der Aufmerksamkeit für die Navigation benötigt wird. Dagegen zeigt Hypertext leichte Vorteile, wenn es darum geht, aufgrund einer Fragestellung geeignete Inhalte zu finden. Der Grund ist, dass in diesem Fall der Navigation insgesamt mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss als dem Textinhalt.
Frühere Studien, etwa die bekannte Schnotz-Studie (Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle. In: Mandel, H./ Spada. H.: Wissenspsychologie, München 1989), lassen Hypertext gegenüber linearem Text noch deutlich schlechter aussehen. Viele dieser früheren Studien datieren allerdings aus den frühen 90er oder gar 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Normale Computeranwender waren zu jener Zeit völlig unvertraut mit Hypertext — eine Voraussetzung, die sich mittlerweile durch den anhaltenden Erfolg des World Wide Web wesentlich verändert hat. Waren Hypertext-Systeme früher exotische Einzelanwendungen, so ist Hypertext heute gleichbedeutend mit dem World Wide Web. Wer über Jahre hinweg einen Web-Browser einsetzt, so darf deshalb vermutet werden, der lernt, sich in Navigationsumgebungen immer schneller zurechtzufinden. Dazu kommen immer ausgereiftere Werkzeuge im Bereich von Bookmarks und Suchmaschinen. Bei großen Websites haben sich längst gewisse Standards im Layout durchgesetzt. Eine weitere wichtige Entwicklung des Web-2.0-Zeitalters ist das Abonnieren von Newsfeeds, also das Aufnehmen von Informationen unter einer persönlich gestaltbaren, einheitlichen Bedienoberfläche. All diese Entwicklungen verkürzen die Orientierungsphase und ermöglichen dadurch eine stärkere Konzentration auf die eigentlichen Inhalte.
Wir befinden uns also mitten in einem Wandel, in dessen Verlauf der alltägliche Umgang mit Hypertext für immer mehr Menschen so selbstverständlich wird wie das Aufschlagen eines Buches. Die Schnelligkeit, mit der sich der Wandel vollzieht, erschwert natürlich die Ausarbeitung von Studien mit stabilen Ergebnissen. Derzeit gehen Risse quer durch Generationen und Bildungsschichten. Jüngere Menschen gehen tendenziell selbstverständlicher und routinierter mit elektronischen Inhalten in Hypertextform um als ältere, und Menschen mit höherem Bildungsgrad finden sich tendenziell leichter in Hypertextumgebungen zurecht als Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad. Doch das sind allenfalls Tendenzen, die niemals als zuverlässige Einschätzungsprognosen für Einzelpersonen taugen.
Studien und Thesen, die sich damit befassen, ob Hypertext der besseren Informationsaufnahme dienlich ist, lassen außerdem häufig einen Aspekt außer Acht, der gegenwärtig immer mehr an Bedeutung gewinnt. Viele erfolgreiche Projekte im Web verdanken ihren Erfolg nämlich dem sogenannten user generated content [Wikipedia]. Dabei wird die Rezipientenrolle mehr oder weniger stark aufgehoben. Der Rezipient kann aktiv agieren und reagieren, Texte beitragen, seine Meinung kundtun, Fragen stellen oder beantworten. Er wird zum Bestandteil des Hypertextprozesses. Das ist in Foren der Fall, aber auch in kollaborativen Webanwendungen wie Wikis [Wikipedia]. Neben dem Faktor der freien Navigation im Inhalt kommt dadurch also noch ein weiteres Merkmal für modernen, web-basierten Hypertext hinzu: die Kommunikation mit anderen Teilnehmern.
Wenn der Rezipient zum Partizipienten wird, hat das zwangsläufig auch Folgen für die Art und Qualität der Informationsaufnahme. Eigene Aktivität erhöht die Spannung. Fremdinhalte müssen nicht „heruntergeschluckt und gepaukt“ werden, sondern sind Anlässe für eigene Kommentare, Antworten oder Auseinandersetzungen. Andererseits sind diskursive, von Anwendern beigetragene Inhalte oftmals chaotisch strukturiert, unvollständig und ohne klare Autorenkonzepte wie Trennung von sachlicher Darstellung und subjektiver Einschätzung. Vor allem für Lernende, die in einer solchen Hypertextumgebung versuchen, sich Wissen anzueignen, scheint das ein Nachteil zu sein. Denn Lernende befinden sich in einem „anomalous state of knowledge“. Während sie sich Wissen aneignen wollen, suchen sie nach präzisen Begriffen und eindeutigen Antworten auf ihre Fragen. Die erfahrene Führung eines Lehrbuchautors erscheint dazu wesentlich geeigneter als die ungefilterte Inhaltsmasse eines kollaborativen Hypertextes.
Möglicherweise trifft das jedoch nur auf Wissen zu, das ein Lernender sich kurzfristig und selbstdisziplinarisch aneignen will. Denn gerade jüngere Menschen, die mit dem Web vertraut sind, berichten häufig, dass sie Fachinhalte wie Programmiersprachen vorzugsweise durch Teilnahme an entsprechenden Fachforen erlernen — gegebenenfalls in Verbindung mit verlässlichen Dokumentationen und viel eigenem Herumprobieren. Diese eher unorthodoxe Zugangsweise benötigt mehr Zeit, wird dafür vom Lernenden aber kaum als Pflicht erlebt, und das so erworbene Wissen wird wohl nachhaltiger gespeichert als im Paukmodus, den es ohnehin ohne Prüfungswesen vermutlich gar nicht geben würde.
Zusammenfassend könnte man sagen, dass Hypertext gegenüber linearen Medien tendenziell eher nachteilig bewertet wird. Was dabei jedoch meist nicht hinterfragt wird, ist die Art, wie Informationsaufnahme vorgeblich zu funktionieren hat. Wird unter Informationsaufnahme eher die klassische, zeitlich begrenzte Wissensaneignung (lerne bis dahin und dann wird dein Wissen abgefragt) verstanden, so dürften die hypertext-kritischen Studien Recht behalten. Wird dagegen von einer spielerischen, zwanglosen und zeitlich stresslosen Wissensaneignung ausgegangen, so kann Hypertext seine Vorteile eher ausspielen, und zwar erst Recht in Umgebungen, die zusätzlich die Kommunikation mit anderen Teilnehmern zulassen.
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