Hypertext hat eine Tradition. Denn Hypertext ist eine Konsequenz aus der Vorstellungswelt, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat und alle Bereiche des modernen Alltags der Industriegesellschaften durchdrungen hat. Das moderne Leben darin ist gekennzeichnet durch Fragmentierung. Berufsleben, Familienleben, Vereinsleben erfordern verschiedene Rollen von ein und demselben Menschen und berühren sich nicht oder kaum. Der Broterwerb findet meist woanders statt als dort, wo die Früchte genossen werden. Auch für Erholung und Konsum sind Zonen entstanden, die eigens dafür aufgesucht werden. Der moderne Mensch hat gelernt, Dinge im Leben und im Kopf klar auseinanderzuhalten. Genau das aber ist das Prinzip der fragmentierten Einheiten, das auch Hypertext zugrunde liegt. Und Hypertext lässt sich als der Wunsch begreifen, diese fragmentierten Einheiten zumindest wieder sinnvoll zu verknüpfen, die Verbindungen zwischen ihnen sichtbar und ausführbar zu machen.
Man kann nur Brücken schlagen zwischen Ufern, die man auseinanderhält. Schon Friedrich Nietzsche sah menschliche Stärke darin, Gegensätze in sich auszuhalten. Der Mensch hat die Fragmentierung gewollt, um sich weiterzuentwickeln. Aber ebenso bleibt der Wunsch nach Einheit. Manche versuchen es mit Rückzug in einfache, traditionelle Lebensformen. Und andere eben damit, dem Gedanken der Vernetzung zu folgen. Sie spinnen das Netz (Weaving the Web!).
The human mind…operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain (Vennevar Bush)
Vannevar Bush
Übersetzung: der menschliche Geist … arbeitet mit Hilfe von Verknüpfung. Gerade mal einen Inhalt in seiner Reichweite, schnappt er sich sogleich den nächsten, der von der Assoziation der Gedanken vorgeschlagen wird, entsprechend einem undurchsichtigen Netz aus Pfaden, die von den Gehirnzellen getragen werden.
1945 schrieb Vannevar Bush dieses Zitat. Es stammt aus dem als bahnbrechend geltenden Aufsatz As we may think, den Bush in jenem Jahr in der amerikanische Zeitschrift The Atlantic Monthly veröffentlichte, und durch den er berühmt wurde.
Bush kritisiert in diesem Aufsatz die umständliche und unnatürliche Art und Weise, wie Menschen sich Informationen beschaffen müssen. In seinem Aufsatz entwirft er die technische Vision einer Apparatur, die Informationen aufzeichnen und schnell wieder finden und präsentieren kann. Der Apparatur gibt er den Namen „Memex“. Bush stellt sich darunter ein Gerät vor, das alle Inhalte aufzeichnet und speichert, mit denen ein Mensch zu tun hat, wie Bücher, Akten oder Briefe. Das Gesamtgerät soll ein Schreibtisch sein. In einem Teil davon befindet sich der Massenspeicher, und fest installierte Wiedergabeschirme zeigen aufgefundene Inhalte an.
Memex speichert seine Inhalte auf Mikrofilm. Mikrofilme für Bücher, Zeitschriften usw. können erworben werden. Persönliche Dokumente oder handschriftliche Notizen können über eine Art Scan-Vorrichtung auf Mikrofilm übertragen werden.
Bush stellt sich für sein Memex riesige Datenspeicher vor, auf denen zahllose Mikrofilme abgelegt werden können. Damit entsteht aber auch das Problem der Adressierung. Wie wird ein bestimmtes Buch, ein bestimmter Brief, ein bestimmtes Foto ganz schnell gefunden? In Bushs Memex stellen Mikrofilme die Inhaltseinheiten der gesamten Information dar. Adressierbar sind die einzelnen Filme über Codes. Da sich niemand alle Codes merken kann, gibt es ein Code-Buch, also eine Art Telefonbuch für die Codes. Durch Eingabe von Codes über eine Tastatur lassen sich bestimmte Mikrofilme auf einen der Wiedergabeschirme projizieren. Das schnelle Heraussuchen des richtigen Films besorgt die Memex-Maschine.
Bis zu diesem Punkt der Gedankenführung leistet die Memex-Maschine noch nichts anderes als eine maschinelle Beschleunigung der gleichen Art von Information Retrieval, die auch das klassische Suchen in Bibliotheken und Dokumentarchiven charakterisiert. Es gibt ein Schema zur Ablageadressierung, und es gibt Möglichkeiten, Adressen herauszufinden. Mit Hypertext hat das alles noch nichts zu tun.
Bush denkt jedoch weiter: Für Memex sieht er darüber hinaus die Möglichkeit vor, dass ein Memex-Benutzer zu jedem gespeicherten Mikrofilm Verknüpfungen zu beliebigen anderen Filmen speichern kann. Wann immer er einen Film aufruft, werden auch die dazu gespeicherten Verknüpfungen zu anderen Filmen angeboten. Die dabei verwendete Technik ist noch halbmechanisch. Doch durch die Möglichkeit individuell setzbarer, beliebiger Verknüpfungen zwischen Mikrofilmen wird ein zusätzliches Zugriffsnetz über den gesamten gespeicherten Inhalt gelegt. Dieser Gedanke innerhalb der Vision von Bush gilt als Geburtsstunde des Hypertextgedankens.
Die Memex-Apparatur
Bush erkennt mit ganzer Klarheit die Auswirkungen des einfachen Prinzips beliebiger Inhaltsverknüpfungen auf Enzyklopädien, persönliches Information Management und Wissenschaft. Er sieht sogar einen völlig neuen Berufszweig entstehen, nämlich den des „Fährtensuchers“, der fachkundig Inhalte verknüpft. Seine Memex-Vision gipfelt schließlich allerdings in einer Vorstellung, mit der wir heute eher Intensivmedizin oder Gehirnwäsche assoziieren: über Elektroden sollen menschliches Gehirn und Memex ohne Umwege über Eingabegeräte kommunizieren können.
Den Ausdruck „Hypertext“ gab es 1945 noch nicht. Dennoch gilt Bushs Aufsatz über die Memex-Maschine als frühe Quelle für die Erforschung dessen, was man unter Hypertext versteht. Bei allem Verhaftetbleiben in den technischen Möglichkeiten von 1945, und bei aller Verstiegenheit, zu der sich Vannevar Bush in seinem Aufsatz wagt, bleibt es doch ein legendäres Dokument, das einen einfachen, aber bedeutenden neuen Gedanken in die Welt gesetzt hat.
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