Lost in Hyperspace

Beim Stöbern in den Inhalten eines Hypertextangebots besteht leicht die Gefahr, sich vom Hundertsten ins Tausendste zu verirren. Angenommen, eine Startseite enthält einige Verweise zu Seiten über Ortschaften. Man klickt eine der Seiten an. In den Inhalten zur Ortschaft klickt man auf einen Link zu einem Fürsten, in dessen Gemarkung die Ortschaft einst fiel. In den Inhalten zu dem Fürsten klickt man auf einen Link zu einer Hygienevorrichtung, die im Schloss dieses Fürsten bereits installiert war, was zu der damaligen Zeit alles andere als selbstverständlich war. In den Inhalten zu der Hygienevorrichtung klickt man auf einen Link zu einer Krankheit, die durch die Einführung dieser Hygienevorrichtung weitgehend besiegt werden konnte.

Man kann also sehr weit und interdisziplinär herumkommen, wenn man beim Hypertext-Stöbern spontan Verweisen folgt. Dies passt zu der Beobachtung, dass nur wenige Gedankenschritte nötig sind, um von einem beliebigen Gedanken zu einem beliebigen anderen Gedanken eine logisch sinnvolle Verbindung zu schaffen. Im obigen Beispiel genügen drei Links, um eine logisch nachvollziehbare Brücke zwischen einer Ortschaft und einer längst ausgerotteten Krankheit herzustellen. Als kognitiver Prozess betrachtet, ist so etwas durchaus bemerkenswert und faszinierend (Stichwort Serendipity [Wikipedia]). Aus Sicht des betroffenen Anwenders kann eine solche Gedankendrift jedoch auch als unerwünschte Ablenkung vom ursprünglichen Interesse empfunden werden. Solange in einer solchen Situation genügend Angebote existieren, über die der Anwender leicht zurückfindet oder sich anders orientieren kann, wird sich die Negativ-Empfindung vermutlich in Grenzen halten. Fehlen solche Angebote jedoch, tritt das sogenannte Lost-in-Hyperspace [Wikipedia]-Gefühl ein („verloren im Hyperspace“).

Stöbern in Hypertext lädt also zum Driften ein. Erfreuliche Mehrwerteffekte („Serendipity-Effekte“), die dabei auftreten können, sind nicht planbar. Unerfreuliche Lost-in-Hyperspace-Gefühle sind jedoch vermeidbar. Die Mittel dazu werden teilweise von der verwendeten Hypertext-Software bereitgestellt. Anbieter von Hypertext-Inhalten können jedoch ebenfalls entscheidend dazu beitragen, dass keine Lost-in-Hyperspace-Gefühle auftreten.

Hilfen zur Rück- und Neuorientierung

Ein Web-Browser ist Hypertext-Software für Anwender. Das kommt schon in bekannten Produktnamen wie Navigator oder Explorer zum Ausdruck. Das ganze Web und seine Technologien sind ebenfalls auf Hypertext ausgelegt. Im Web und in Web-Browsern sind daher auch typische software-seitige Mittel zur Rück- und Neuorientierung in Hypertexten vorgesehen. Diese Mittel sind jedoch keine neue Erfindungen, die erst durch das Web entstanden. Auch Hypertext-Software im Vor-Webzeitalter kannte bereits vergleichbare Mittel.

Backtracking/Historie

Im griechischen Mythos war es der Ariadnefaden [Wikipedia], der Theseus wieder aus dem Labyrinth des Minotaurus heraushalf. Wer heute mit einem Web-Browser surft, zieht mit jedem neuen Seitenaufruf ebenfalls einen Ariadnefaden hinter sich her. Wenn man sich im Hyperspace verirrt, ist die Liste der bereits besuchten Seiten häufig ein willkommener Rettungsanker.

Die einfachste Form ist das schrittweise Zurückorientieren, Backtracking [Wikipedia] genannt. Nicht von ungefähr bezeichnet der Begriff im Englischen eine algorithmische Problemlösungsmethode. Auch dem Menschen kommt diese Methode entgegen. Moderne Browser bieten dazu in ihrer Werkzeugleiste eine Schaltfläche („Back-Button“) an. Durch wiederholtes Betätigen werden die zuvor besuchten Webseiten wieder angezeigt. Da die Browser deren Inhalte meistens in einem Cache gespeichert haben, müssen sie nicht einmal mehr aus dem Web übertragen werden, sondern sind sofort präsent. Eine interessante Ergänzung in diesem Zusammenhang ist die Geschwisterschaltfläche „Forward-Button“. Diese Funktion ist dann verfügbar, wenn ein Backtracking gestartet wurde. Sie ermöglicht das erneute Vorwärtsblättern, also gewissermaßen ein Backtracking zum Backtracking.

Während einfaches Backtracking dem Anwender hilft, um aus Hypertext-Sackgassen schnell und intuitiv wieder herauszufinden, dient die Historie bereits besuchter Inhalte eher der gezielten Neuorientierung. Moderne Browser machen die gespeicherte Historie über eine Sidebar, über Menüs oder über einen separaten Dialog zugänglich. Der Anwender kann sich die Titel gespeicherter Inhalte nach Besuchszeit oder nach Kriterien wie Domain-Namen sortieren lassen. Wie viele Daten oder welcher Zeitraum in der Historie gespeichert wird, ist einstellbar. Der Anwender kann die gesamte Historie außerdem jederzeit löschen.

Lesezeichen/Bookmarks/Favoriten

Ein Sachbuch ohne Inhaltsverzeichnis würde von den meisten Lesern mit gutem Recht als schwer zugänglich empfunden. Das Bedürfnis, sich über ein Inhaltsverzeichnis zu orientieren, besteht bei Hypertext-Inhalten ebenso. Für umfangreiche Hypertext-Angebote kann es jedoch nicht „das eine“ Inhaltsverzeichnis geben. Zur Grundausstattung einer ordentlichen Hypertext-Software gehört daher die Möglichkeit, sich ein eigenes, auf persönliche Interessen zugeschnittenes Inhaltsverzeichnis einzurichten.

Lesezeichen, Bookmarks oder auch Favoriten, wie sie je nach Software genannt werden, bestehen als Dateneinheit aus mindestens zwei Feldern: der Adresse eines Hypertext-Inhalts, und einem Titel, unter dem der Eintrag aufgelistet wird. Einige moderne Browser erlauben es darüber hinaus, Kurzbeschreibungen zu den Einträgen zu bearbeiten.

Da die meisten Anwender in der Praxis sehr schnell sehr viele Lesezeichen setzen, würde eine einfache Liste bald unübersichtlich. Deshalb werden die Lesezeichen heute in aller Regel in frei bearbeitbaren Verzeichnissstrukturen gespeichert, ähnlich wie Dateien im Verzeichnisbaum eines Datenträgers. Durch die Speicherform einer Verzeichnisstruktur lässt sich die Lesezeichenfunktion bei ordentlicher Verzeichnispflege tatsächlich wie ein persönliches Inhaltsverzeichnis nutzen. Für die meisten Web-Anwender ist das Lesezeichenverzeichnis ihres Browsers längst zum Standardinstrument geworden, um sich im Web zu orientieren. Ein Lesezeichenverzeichnis bewahrt auch vor Lost-in-Hyperspace-Gefühlen, da es jederzeit eine für den Anwender vertraute Möglichkeit der Neuorientierung bietet.

Da Lesezeichen mit dem Konnotat „hier halte ich mich gerne auf“ (daher auch die Bezeichnung „Favoriten“ im Internet Explorer) besetzt sind, sind sie nicht nur für den Benutzer interessant, der das Lesezeichen gesetzt hat. Webangebote für Social Bookmarking (siehe auch Folksonomy und Social Bookmarking) basieren auf der Idee, dass Benutzer ihre Lesezeichen einfach online speichern. Der Anreiz für die Benutzer besteht darin, dass sie bei dieser Speicherart von überall auf ihre Lesezeichen zugreifen können. Aus dem gemeinsamen Pool aller Lesezeichen entsteht eine Art Web-Verzeichnis. Neben Titel, Zieladresse und Kurzbeschreibung erhalten die Lesezeichen dabei außerdem sogenannte Labels oder Tags, also Stichwörter. Indem alle Benutzer davon Gebrauch machen, wird Gemeinschaftliches Indexieren [Wikipedia] betrieben.

Verzeichnisse, Feeds und Software-Agenten

Wie gut ein persönliches Lesezeichenverzeichnis ist, hängt davon ab, wie viel der Anwender, der es pflegt, im Inhaltsangebot bereits entdeckt hat. Ein Lesezeichenverzeichnis dokumentiert letztlich immer, was der Anwender bereits kennt. Ebenso wichtig sind jedoch inhaltliche Übersichtsformen, die der Anwender nicht selber pflegt, und die ihm neue, bislang unbekannte Inhalte erschließen helfen.

Die klassische Form „allgemeingültiger“ Web-Inhaltsverzeichnisse repräsentierten in den Anfangsjahren des Webanbieter wie Yahoo. Eine frühere Version der Yahoo-Startseite [Web Archive] zeugt noch vom ursprünglichen Charakter eines allgemeinen Linkverzeichnisses. Die gegenwärtige Version der gleichen Seite [Yahoo] zeigt dagegen, dass dieser Anspruch aufgegeben wurde. Auch ehemals in diesem Bereich konkurrierende Services wie ExciteLycos oder Web.de haben sich längst davon verabschiedet, primär ein allgemeines Verzeichnis für andere Inhalte zu sein. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits sind all diese Services kommerziell orientiert und mussten nach Wegen suchen, um profitabel zu sein. Weitere Gründe für das Sterben der klassischen, redaktionell gepflegten Web-Verzeichnisse ist die schiere Masse an Inhalten im Web, das häufige Wechseln von Inhalten zu anderen Domains, sowie Pseudo-Inhalte, die beispielsweise nur Wikipedia-Inhalte kopieren.

Vielversprechender sind aus gegenwärtiger Sicht Inhaltsübersichten, die nicht mehr redaktionell zustande kommen, sondern durch Software-Prozesse. Ein Beispiel für diese Repräsentationsform sind die immer erfolgreicher werdenden Newsfeeds (RSS [Wikipedia]- oder Atom [Wikipedia]-Feeds). Die Aktivität des Anwenders beschränkt sich bei Newsfeeds darauf, News-Kanäle zu Themen, die ihn interessieren, zu abonnieren. Die Schlagzeilen und manchmal auch Anlesertexte der News eines abonnierten Kanals bekommt der Anwender dann automatisch und aktuell aufgelistet.

Die nächste Ausbaustufe auf dem Weg zu generierten Inhaltsübersichten sind Software-Agenten [Wikipedia]. Während die Crawler, Spider und Robots großer Suchmaschinen bereits ausgereifte Typen dieser Software-Gattung sind, führen Software-Agenten, die von Endanwendern gestartet werden, noch eher ein Schattendasein. Es ist jedoch absehbar, dass sich dies ändern wird.

Generierte Inhaltsübersichten lassen sich ähnlich wie Lesezeichenverzeichnisse in die Benutzeroberfläche eines Browsers integrieren. Sie bieten dem Anwender ein weiteres, ebenso wichtiges Mittel zur Rück- und Neuorientierung wie die persönlichen Lesezeichen.