Hypertext und adressierbarer Speicher

Die wesentliche Eigenschaft von Hypertext besteht darin, Sprünge zwischen entfernten Inhalten sofort ausführbar zu machen. Dazu sind Verweise und adressierbare Ziele (Anker) erforderlich.

Lineare Medien sind für diese Anforderungen schlecht geeignet. Seitenzahlen sind schlechte Adressen, weil das Aufschlagen und Suchen lange dauert, vor allem dann, wenn es viele Male durchgeführt werden soll. Sendezeiten sind noch schlechtere Adressen, weil man abwarten muss, bis eine Sendung anfängt.

Die Voraussetzung für ein nicht-lineares Medium ist, dass ein Zugriff auf darin gespeicherte Inhalte direkt und schnell möglich ist. Computer verfügen heute über solche Speicher. Das war allerdings nicht immer so. In den Anfängen der Computer-Zeit dominierten Magnetbänder, Lochstreifen und ähnliche Medien. Das Speichern von Daten auf solchen Speichern ist nur sequenziell möglich, also genauso linear wie in einem Buch. Zwar ist es möglich, den Computer auf solchen Speichern nach bestimmte Stellen suchen zu lassen, doch wer schon mal versucht hat, auf einem Videoband zehn markierte Szenen eines Films anzuwählen, weiß, dass so etwas letztlich ebenfalls zeitraubend ist.

Den eigentlichen Durchbruch für nicht-lineare Medien stellen Datenspeicher mit wahlfreiem Zugriff [Wikipedia] (engl.: random access memory, abgekürzt RAM) dar. Zu dieser Art von Datenspeicher zählt in modernen Computern unter anderem der Arbeitsspeicher, der oft als RAM bezeichnet wird, was aber eigentlich nicht korrekt ist, da RAM eine ganze Gattung von Speichern kennzeichnet. Festplatten, CDs, DVDs, USB-Sticks oder SD-Cards gehören ebenfalls zu den RAM-Speichern.

Festplatten-Lese-/Schreibkopf über Plattenscheibe (Platter) — Quelle: Wikimedia

Festplatten-Lese-/Schreibkopf über Plattenscheibe (Platter) — Quelle: Wikimedia

Die Zeiten, die ein Computer benötigt, um auf RAM-Speichern eine bestimmte Stelle zu finden, weichen zwar erheblich voneinander ab. So ist der Zugriff in einem elektrischen Speicher (z.B. Arbeitsspeicher) um ein vielfaches schneller als der Zugriff auf einem magnetischen Speicher (z.B. Festplatte). Doch insgesamt liegen die Zugriffszeiten bei RAM-Speichern weit unter dem, was ein Mensch als konzentrationsstörende Verzögerung wahrnehmen würde.

Hypertext in Netzwerken mit laufwerkübergreifender Adressierung

Führt ein Verweis in einem Buch zu einem ganz anderen Buch, so kann sich die Zeit, um das Verweisziel zu lesen, auf Zeiträume erhöhen, die weit jenseits einer Konzentrationsphase liegen, z.B. dann, wenn das Buch mit dem Verweisziel nur in einer entfernten Bibliothek erhältlich ist. Bei Computern ist das an sich nicht anders. Wenn Inhalte auf andere Inhalte verweisen, die auf einem entfernten, nicht verbundenen Computer gespeichert sind, nutzen die Vorteile des RAM-Zugriffs überhaupt nichts.

Computer-Netzwerke bieten jedoch die Möglichkeit, schnell auf Inhalte entfernter Computer zuzugreifen. Allerdings hängt viel davon ab, wie viele Computer mit relevanten Inhalten an einem Netzwerk hängen, und wie belastbar das Netzwerk ist, wenn viele Benutzer es nutzen. Zwei Faktoren haben entschieden dazu beigetragen, dass heute so etwas wie weltweiter Hypertext möglich ist: zum einen der in vielen Ländern intensiv vorangetriebene Ausbau der physischen Netzwerkverbindungen, und zum anderen die defacto-Einigung auf Netzwerk-Protokollstandards wie TCP/IP [Wikipedia], der zum Internet in seiner heutigen Form führte.

Hypertext ist prinzipiell ein Fass ohne Boden. Hypertext besteht aus Inhalten, die sich der Tatsache bewusst sind, dass sie sich inhaltlich in einem Kontext befinden. Durch Verweise (Hyperlinks) wird dieses Bewusstsein explizit ausgedrückt. Die Adressierung von Kontext-Inhalten muss jedoch von der technischen Seite der Computer-Netzwerke entkoppelt werden, da Adressen von Inhalten exakter sein müssen als reine Netzwerkadressen von Computern. Mit dem Konzept der URIs [Wikipedia] hat Tim Berners Lee [Wikipedia] eine solche Form der Adressierung geschaffen und standardisiert. Allein schon deshalb gebührt ihm der Titel „Gründervater des Web“.

Hypertext und Computer-Anwender

Bei allen Vorteilen, die RAM-Speicher und Netzwerke bieten, sind Computer nur dann für Hypertext geeignet, wenn angemessene und für Anwender angenehme Benutzerschnittstellen hinzukommen. Noch bis in die 90er Jahre und die Anfänge des World Wide Web hinein waren Computer mit nicht-grafischen, reinen Textoberflächen weit verbreitet, und die meisten Anwender schauten in kleine, flimmernde und unscharfe Röhrenbildschirme.

Doch selbst bei komfortablen Bildschirmen und angenehm empfundener grafischer Benutzeroberfläche bleiben Probleme bestehen: Heutige Personal Computer sind nicht für langes Lesen konzipiert, sondern zur Interaktion zwischen Anwender und Rechner. Hypertext ist nach heutiger Technik nur in elektronischer Form sinnvoll möglich. Aber die elektronische Repräsentation von Inhalten hat in den Köpfen der meisten Menschen noch nicht den selbstverständlichen Platz eingenommen, den das Buch darin hat. Das verwundert auch nicht weiter angesichts der Tatsache, dass bei diesem Vergleich ein, zwei Jahrzehnte an mehreren Jahrhunderten gemessen werden. Außerdem ist nicht unbedingt anzunehmen, dass Computer bis in alle Zeiten elektronik-basiert arbeiten werden (Stichwörter optische Computer  [Scinexx] und DNA-Computer [wissenschaft.de]).

Die Infrastruktur für weltweiten Hypertext existiert mittlerweile, und sie stabilisiert sich. In den Köpfen der Anwender wird Hypertext von Jahr zu Jahr ein wenig selbstverständlicher. Insgesamt gesehen handelt es sich jedoch immer noch um eine sehr junge Repräsentationsform für Inhalte. Viele Menschen kommen noch nicht so gut damit zurecht. Deshalb ist es weiterhin wichtig, die Eigenschaften von Hypertext begreiflich und bewusst zu machen. Der Anwender, besonders der durchschnittliche, ist jedenfalls nicht so leicht zu revolutionieren wie die Technik.

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